Ein Bericht vom WGT

 

Die Sonne brennt heiss vom Himmel und sendet ihre wärmenden Strahlen über die reflektierenden Oberflächen von Lack und Leder. Nieten blitzen und die Träger dieser, für den Normalsterblichen, obskuren Kleidung schwitzen sich die letzte Flüssigkeit aus dem Leib. Doch wird der Strom des Schweisses ständig mit einem Taschentuch in Zaum gehalten eh er das kostbare Kunstwerk der geschminkten Augen und Lippen erreichen kann. Wohin man auch blickt ... alles Schwarz.
Massenwahnsinn? Mitnichten ... wir befinden uns auf dem Wave Gotik Treffen in Leipzig und die Menschen sind Grufties in ihrer besten (oder zerrissensten) Sonntagkleidung. Für vier Tage bevölkern sie die Wiesen, die Strassenbahn und prägen das Stadtbild der beschaulichen Leipzig. Die Stadt scheint in einem Trauerzug zu aufzugehen doch diese Menschen sind hier um zu feiern (auch wenn einige von ihnen das nie zugeben würden) ... Auf dem Agra-Gelände, welches den Zeltplatz und den Hauptveranstaltungsort darstellt, zeichnet sich Bewegung ab. Wir schreiben Donnerstag, den 06.06.2003 und es ist etwa halb Eins am Nachmittag. Das Gelände und der zugehörige Zeltplatz öffnen ihre Pforten und die schwarze Masse strömt, mit Zelten und Taschen belanden ins Innere, alle auf der Jagd nach einem guten und schattigen (bloss keine Sonne) Standplatz für ihre temporären Unterkünfte. Selbstverständlich machen sich einige noch nicht sofort an den Aufbau ihrer Zelte sondern relaxen nach einer langen Fahrt oder korrigieren die durch den Schweiss verwischte Schminke um sie 5 Minuten später dann wieder zu korrigieren und so weiter. Die Sonne entpuppt sich als harter Gegner für die recht blasse Erscheinung und erbarmungslos rötet sie sonst die mühsam vor dem Licht versteckte Haut.
Die Wärme scheint erdrückend doch dann gegen Abend bedeckt sich der Himmel und ein erleichtertes Aufatmen geht durch die hitzegeplagten Reihen, der sich jedoch schnell in einen Aufschrei des Entsetzens wandelt. Ein Tropfen, dann zwei und plötzlich prasselt ein Platzregen hernieder der nach dieser Hitze wie die Sintflut selbst erscheint. Aufgescheucht rennt alles durcheinander und versuch die aufwendigen Frisuren so gut es geht vor dem Regen zu schützen und rechtzeitig ins trockene zu bringen. So mancher Iro verliert den Kampf gegen die Nässe und senkt sich lustlos herunter. Doch der Regen bringt auch die erhoffte Kühlung und die Hitze des Tages verflüchtigt sich etwas. Jetzt werden die aufwendigen Outfits angelegt, die Haare zurechtgemacht, die Schminke nachgebessert oder gleich neu aufgelegt und man begibt sich zur zentralen Eingangsstrasse, dem sogenannten "Catwalk". Warum die Strasse diese Bezeichnung trägt wird einem sofort klar wenn den ersten Fuss auf den Asphalt setzt. Die schrillsten und am aufwendigsten Menschen geben sich hier ihr Stelldichein und man wendet seinen blick hin und her, unfähig zu entscheiden in welche Richtung man zuerst schauen soll.
Kreativität und teilweise scheinbarer Wahnsinn vermischen sind und bilden die Outfits ... die Atmosphäre ist aufgeladen. Die meisten schauen einfach nur und einige lassen sich anschauen. Während die Sonne versinkt füllt sich die Strasse mit schwarzen Gestalten, während andere beginnen auf dem Zeltplatz ihre Alkoholvorräte anzutasten oder ihr seit dem frühen Nachmittag andauerndes Trinkgelage zu einem würdigen (oder auch nicht) Abschluss zu bringen. Dann macht man sich an die scheinbar recht einfache Aufgabe seine Eintrittskarte an den dafür vorgesehenen Ständen, die über den Zeltplatz verteilt sind, in ein Bändchen umzutauschen doch ab diesem Punkt beginnt die Verwirrung.
"Wo muss ich denn da lochen"? Verständnislos blickt der Mann an der Bändchenausgabe die Karte zwischen den Fingern, wendet sie hin und her und man hat fast den Eindruck er möchte sie am liebsten noch misstrauisch beschnüffeln. Doch nach einer Weile und einigen nett gemeinten Hinweisen seitens der wartenden Menschen erkennt er das im Grunde recht einfache System die Obsorgekarte an der dafür vorgesehenden Markierung zu lochen und auch diese Prozedur geht ihren Gang.

Die Stimmung ist heiter und ausgelassen und schon beginnen die allseits bekannten hass-geliebten "Helga" Rufe und volltrunkene Sprünge in Zelte, sowie das ständige Stolpern über die grundsätzlich hinterhältig festgezurrten Zeltschnüre. Und während die einen die mitgebrachten Alkoholvorräte dezimieren und die anderen in den ersten WGT Veranstaltungen feiern senkt sich die Nacht über die Szenerie.
Der nächste Morgen beginnt spät und verschlafen zeigen sich die ersten Gesichter in den Zelteingängen, blinzeln verschlafen ins Licht und einige nehmen sofort den Spiegel in die Hand um zu kontrollieren in welchem Ausmass die Schminke und die Frisur durch die Übernachtung im Zelt gelitten haben. Doch nach einer (gezwungenermassen) kalten aber aufrüttelnden Dusche und einem Kaffee ist man wieder bereit zu neuen Taten. So kümmert man sich um seine Frisur und ein angemessenes Outfit und beginnt gemächlich das vorhandene Angebot zu nutzen. Das Eindecken mit neuen Klamotten und Nietensachen in der Verkaufshalle ist dabei ebenso Pflichtprogramm wie das schlendern durch das heidnische Dorf. Dort kann man bei einem Krug Met mittelalterliche Schwertkämpfe bewundern. Danach wirft man einen schnellen Blick auf den Veranstaltungsplan und entscheidet sich vielleicht spontan zu einem der unzählichen, an vielen Orten stattfindenen, Konzerte zu gehen. Entweder ist das Angebot der agra Halle, die in unmittelbarer Nähe des Zeltplatzes liegt, genehm oder man wählt eine Alternative. Auf dem Weg in die Innenstadt muss man beim Blick auf die Menschenmassen an der Strassenbahnhaltestelle unwillkürlich denken "Und die sollen alle reinpassen". Die Überraschung daran ist daß der Fall eintritt den man nie für möglich gehalten hätte. Die Massen drängen sich tatsächlich alle in die Bahn und mit einige Quetschungen erreicht man schliesslich doch den Veranstaltungsort seiner Wahl. Man besucht Konzerte (oder verzweifelt bei dem Versuch weil man erschlagen durch die schlichte Vielfalt sich nicht entscheiden kann), verweilt zum Schlendern über den Mittelaltermarkt an der Moritzbastei (nicht ohne sich dort einige Glöckchen für die Schuhe zu besorgen um sein Kommen in Zukunft weit hörbar anzukündigen) oder lässt sich kurz zum Verschnaufen in einem ver vielen Parks nieder. Was in den Konzerthallen im Grossen passiert, spielt sich hier im Park im Kleinen ab. Gespannt lauschen einige im Gras liegende Menschen der kleinen Combo auf der improvisierten Bühne die mittelalterlichen Gesang und Spiel zum besten geben.
Wieder zurück auf dem Agra Zeltplatz. Es ist spät geworden und in der Agra Halle spielen The Gathering ... die Stimmung ist ausgelassen aber stellenweise noch recht reserviert deswegen will die Halle auch nicht wirklich voll werden was von den meisten aber wohl als sehr positiv empfunden wird. So bleibt genug Platz sich auf dem Boden niederzulassen oder sich weit nach vorn zu drängen und Bilder seiner Stars zu machen. Mit gefühlvollem Sound, der sich mit harten Riffs abwechselt schaffen The Gathering Stimmung in der Halle und die Zeit vergeht wie im Flug. Ein oder zwei kühle Getränke von der Bar später betritt DAF die Bühne und heizt den Massen mit markigen, provokanten Texten und hämmerndem EBM ein. Die Musik reisst zum Tanzen mit und wie in einer Trance vergeht das Konzert in dem es dann auch nicht mehr weiter auffällt daß DAF die Lieder wiederholt ... aber niemand stört sich daran und man tanzt ausgelassen.
Die Konzerte sind vobei und man überlegt sich was man nun mit dem angebrochenden Abend anfängt. Die Entscheidung ist klar ... zunächst an der nahe gegelegenen Tankstelle die Alkoholvorräte aufstocken und dann den Abend mit einem Rausch oder tanzend in der Agra Halle ausklingen lassen.
Der Morgen des dritten Tages beginnt erwartungsgemäss etwas später als der des zweiten Tages und nach einer Ruhepause in der wärmenden Sonne geht es auf zu neuen Taten und neuen Konzerten. Wie schon an den Abenden zuvor besieht man sich die Menschen auf dem Zeltplatz. Man kommt miteinander ins Gespräch ... trifft interessante Menschen. Von Satanisten bis hin zu beständig grunzenden Black Metalern, die Lackröcke tragen weil "die Gruftmädels auf schwule Kerle stehen". Betrunkende stolpern verpeilt über den Zeltplatz und beschwerden sich weinerlich über all die aufgespannten Schnüre an den Zelten und versuchen die Orientierung oder zumindest die Toilette zu finden. Dieser Trend beginnt sich auszuweiten und über den dritten und vierten Tag immer mehr vom Zeltplatz zu erfassen. Konventionelle Moralvorstellen sind teilweise nicht mehr anwendbar da eine gewisse geistige und körperliche Freiheit eintritt die sich bis zum Ende des Festivals am vierten Abend stetig steigert ...

 

Christian